Das Berstädter Gemeindewirtshaus
Gemeindewirtshäuser waren immer zugleich auch Herbergen für Durchreisende. Dies wird schon an ihrer Lage am Ortsrand deutlich. Alle drei heute bekannten Gemeindewirtshäuser der Großgemeinde lagen an einer der jeweiligen Ortspforten. Für Wohnbach fehlt bisher dieser Nachweis, allerdings verfügte das Dorf als einziger Ortsteil über eine bedeutende Pferdewechselstation der Thurn- und Taxis-Post auf der Strecke zwischen Wetzlar und Gedern.
In Melbach war die Herberge das Wirtshaus "Zum grünen Baum," das vor der Pforte nach Friedberg lag und dessen berühmtester Gast Johannes Bückler, der "Schinderhannes" gewesen ist. Obwohl Södel eine ähnlich bedeutende Wirtshaustradition besitzt wie Berstadt, lässt sich zwar ein Wirtshaus mit Herberge seit dem 17. Jahrhundert nachweisen, aber kein Gemeindewirtshaus. Dagegen besaß das benachbarte Wölfersheim an der sogenannten "alten Pforte" neben dem "Weißen Turm" ein Gemeindewirtshaus, das seit etwa 400 Jahren nachweisbar ist.
Noch älter oder zumindest noch früher belegbar, ist nach Unterlagen im Berstädter Kirchenarchiv das älteste Berstädter Gemeindewirtshaus an der Oberpforte.
Auf seinem Weg zum Reichstag nach Worms 1521 machte Luther in Berstadt Rast und hielt eine Predigt vor dem GEMEINDEWIRTSHAUS auf der Treppe. Das Foto aus den 60er Jahren zeigt noch die mächtige Treppe, die mittlerweile verschwunden ist.
An dem Gemeindewirtshaus, direkt an der
Oberpforte gelegen, führte die Straße
Hungen – Friedberg vorbei, welche 1811
von den Franzosen ausgebaut und zur
Staatsstraße wurde. Die Straße verlief über
den Zingelbach durch die Zingelpforte in
den Ort, verließ ihn dann an der Oberpforte
und führte durch das lange Gewann nach
Utphe. Diese Straße war seit dem
Mittelalter die Wetterauer Heerstraße,
genannt die Straße durch die kurze Hessen.
Sie führte von Vilbel - Dortelweil - Bruchenbrücken über Södel und Berstadt nach Hungen.
Dies war auch Luthers Reiseweg, wenngleich damals in umgekehrter Richtung. Später ist gegenüber dem Gemeindewirtshaus auch die erste Berstädter Poststation untergebracht, die von der Postverwalterfamilie Naumann betrieben wurde. In der Hungener Postgeschichte wird der Leipziger Postwagen, der von Eisenach nach Frankfurt fuhr benannt. Dieser hatte in Hungen bis 1778 eine Posthalterei, wo die Kutsche und die Pferde gewechselt werden konnten. Ab 1778 wird dieses Geschäft von "Naumanns Wittib in Berstadt" besorgt. Nach 1821 wird Hungen wieder als Poststation benannt. Der Echzeller Postgeschichtler Mimberg verweist aber darauf hin, dass in den Unterlagen von Regensburg nichts darüber vermerkt ist, dass Hungen die Poststation früher als Berstadt hatte, und angeblich danach wieder übernommen habe! Wahrscheinlich handelt es sich bei Hungen um den Kurs von Gießen über Lich nach Nidda. Auch der berittene Postbote der Thurn- und Taxis-Post lieferte hier bei Naumanns Post für Berstadt ab.Die Oberpforte in Berstadt selbst war bewohnt und diente teilweise als Hirtenhaus. Abgerissen wurde sie 1814.
Das Gemeindewirtshaus hatte einen gemeinsamen Hof mit dem Pfarrhaus. Die unmittelbare Nachbarschaft von Wirtshaus, Pfarrhaus und Kirche gibt es in der Großgemeinde so nur in Berstadt.
Eine Eintragung aus dem Jahre 1703 sagt: "Den 15. Aug. hat die Gemeind die Blanck [Bretterwand] im Pfarrhoff, wodurch der Pfarrhoff vom Wirthshoff unterschieden wird, aufschlagen lassen, solche auf dem Zimer Mann u. dem Mäurer laut ihrer Rechnung bezahlt gantz allein ohne der Kirchen Casten." Seit diesem Tag, übrigens ist es Maria Himmelfahrt, waren Pfarrhaus und Wirtshaus durch eine Holzwand getrennt.Das Gemeindewirtshaus war die Herberge für Reisende, allerdings zeigen Rechnungen aus dem Jahr 1612, dass man arme Personen auch im Rathaus übernachten ließ. Drei Einträge im Kirchenbuch zu Beginn des 18. Jahrhunderts zeigen, dass in dem Gemeindewirtshaus Freud und Leid oft dicht beieinander lagen:
In der hiesigen Herberge stirbt 1704 Anna Maria, "eine arme Frau aus Rothenburg o. T.", eine Marketenderin, mit ihrer Tochter am 8. Mai. Sie war mit Johann Müller nach Berstadt gekommen. 1716 wird in hiesigem Wirtshaus eine durchreisende Frau von einem Kinde entbunden. 1729 stirbt Clos Schlitt, "ein Fuhrmann von der Neustadt bei Ziegenhayn" am 6.10. in hiesigem Wirtshaus.
Während sich in Wölfersheim das Ortsgericht im Gemeindewirtshaus zusammenfand, obwohl man ein Rathaus besaß, ist solches für Berstadt nicht überliefert.
Zumindest in den wärmeren Monaten feierte man auf dem Tanzhof unter einer großen Linde, die in der Nähe des Pfarrhauses stand. Wein- und Branntweinausschank war aber ein herrschaftliches Privileg und wurde nur im Gemeindewirtshaus verkauft. Bier als Genussmittel wird vermehrt seit Ende des 19. Jahrhunderts getrunken.
1622 wird erstmals ein Berstädter Gemeindewirt mit Namen genannt, nämlich Weigel Philipp. Die älteste belegbare Berstädter Wirtsfamilie ist die Familie Rullmann. Mit Peter Rullmann, "allhiesiger Wirth", tritt 1670 zum ersten Mal ein Mitglied der Wirtsfamilie Rullmann auf. Sein Sohn Johann Heinrich Rullmann ist von dem Jahr 1699 an bis 1727 als hiesiger Wirth nachweisbar. 1702 wird auch mit Anna Maria Rullmann erstmals eine Wirtsfrau erwähnt. Johann Heinrich Rullmanns Bruder, Johannes, ist seit 1705 ebenfalls Wirt, aber in Ober-Widdersheim.
Daneben gibt es seit 1728 mit der Familie Nagel eine zweite alte Wirtsfamilie, die sich scheinbar mit der Familie Rullmann die Leitung des Gemeindewirtshauses zeitweise teilte, denn auch 1736 wird Johannes Nagel als "gemeiner Wirth" bezeichnet, 1741 ist wieder Johannes Rullmann der Wirt.
Die Franzosen legen 1793 große Magazine in Friedberg, Frankfurt, Homburg, Butzbach, Wetzlar und Gießen an. In den Gemeinderechnungen von 1793 tauchen erstmals Kosten für Fouragerechnungen wegen Lieferungen nach Homburg in Höhe von 47 Gulden, 29 Albus und 4 Pfennigen auf. Der "Gemeine Wirt" Rullman muss bei dem Gegenzug der preußischen Truppen 10 Mann Cavallerie in Quartier nehmen und erhält dafür aus der Gemeindekasse 18 Gulden, 2 Albus und 4 Pfennige.
Noch in der Zeit der Napoleonischen Kriege wird das Gemeindewirtshaus in der bisherigen Form aufgegeben. Man wird nun in regelmäßigen zeitlichen Abständen das "Gemeine Schild mit dem Löwen" an den Meistbietenden im Ort versteigern. Zugleich kommen nun immer mehr private Gasthäuser auf, so dass Berstadt im 19. Jahrhundert neben Södel die meisten Wirtshäuser in der Großgemeinde besitzt.
1810 am 07.11. wird das "GEMEINE SCHILD MIT DEM LÖWEN," das sich ursprünglich am gemeinen Wirtshaus befand, durch den Ortsvorstand versteigert. Das Wirtshausschild erwerben die Wirte Philipp Winter und Paul Bayst unter den folgenden Bedingungen auf 3 Jahre: Die Gemeinde darf das Wirtshausschild jederzeit zurückfordern, das Pachtgeld in Höhe von 3 Gulden wird jedes Jahr an Martini fällig, das Ausbessern des Wirtshausschildes ist Sache der Pächter, der jederzeit die Wirtsstube dem Gemeindevorstand überlassen muss. Das Gemeindewirtshaus bleibt längere Zeit in dem Besitz von Philipp Winter. Am 1. Juni 1820 wird z.B. das alte Schulgebäude in der Gastwirtschaft Philipp Winter öffentlich versteigert.
1824 steigert erneut Philipp Winter das Wirtsschild "ZUM LÖWEN", dieses mal aber auf 6 Jahre. Der jährliche Zins beträgt nunmehr 4 Gulden und 5 Kreuzer.
Winter pachtet 1830 wiederum die Rechte des Gemeindewirtshauses, muss jetzt nur noch 1 Gulden 30 Kreuzer an die Gemeindekasse jährlich zahlen, allerdings hat er die Auflage, das ausgepfändete Vieh in seinen Stallungen unterzustellen.
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© Eugen Rieß